Ursprung und Geschichte des Eurasiers
Alfred Müller im Oktober 2003
(Vervielfältigungen, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Autors)
Vorwort
Es kann keine Geschichte des Eurasiers geben, ohne über dessen Menschen zu schreiben. Schließlich waren es nur wenige, die sich diese neue Rasse erträumten und sie durch alle Schwierigkeiten hindurch als eigenständige Rasse entstehen ließen.
Alfred Müller schrieb diese Geschichte auf. Er selbst war und ist Teil der Eurasier-Idee und ihrer Entwicklung. Mitglied in der Zuchtgemeinschaft für Eurasier e.V. seit 1979, als Anuschka vom Auerbach "unser Familienleben auf den Kopf stellte", wurde Alfred Müller noch unmittelbar durch Charlotte Baldamus zum Zuchtwart ausgebildet (später wurde er Körmeister und Hauptzuchtleiter) und festigte seine Eurasiersicht unter dem Einfluß von Dr. Schmidt, Frau Dr. Jander, Hans Rossow sowie durch viele Gespräche mit Züchtern dieser neuen Rasse. Auch wenn er sich selbst in seiner ihm eigenen Art als "alternder Eurasierfreund" bezeichnet, "der immer noch keine Ahnung hat", so ist weder die Zuchtgemeinschaft noch der heutige Eurasier ohne Alfred Müller vorstellbar. Sein Leitsatz, dass die Züchtung des Eurasiers so lange Sinn macht, wie man an der ursprünglichen Idee - den Lorenz'schen Idealen - festhält und so lange es engagierte Menschen gibt, die bereit sind, sich in den "Dienst des Eurasiers" zu stellen, gilt über die Grenzen der Zuchtgemeinschaft hinaus.
Die folgende Abhandlung wurde ursprünglich als Vortrag für die Hauptversammlung "30 Jahre Zuchtgemeinschaft" am 4. Oktober 2003 erarbeitet. Sie basiert auf Originaldokumenten in Schrift, Bild und Ton aus einer Zeit, in der der Eurasier nicht viel mehr war als eine Idee, die sich über die folgenden Jahrzehnte erst noch materialisieren musste.
Auch wenn kleinere Passagen an die Bedingungen des Internet angepasst werden mussten, sollte der ursprüngliche Vortragscharakter, also das direkte Ansprechen der interessierten Eurasierfreunde, erhalten bleiben. Neben der Information kommt es uns daher auf die Interaktion mit Ihnen an, auf Ihre Fragen und Beiträge (Peter Conzelmann, 4. Februar 2004 als Webmaster der ZG)
10 Jahre später - der Vortrag hat also nichts an Aktualität eingebüßt und ist weiterhin sehr gefragt - habe ich ihn unserer aktuellen Homepage angepasst - wiederum ohne dabei seinen Ursprungscharakter zu verändern. (Februar 2014, Dr. Michaela Witte, Webmaster der Zuchtgemeinschaft für Eurasier e.V.)
Aus dem Inhalt:
- Wie kam der Mensch auf den Eurasier? - Der Einfluss von Konrad Lorenz
- Julius Wipfel - Der Vater des Gedankens
- Die planmäßige Zucht des Wolf-Chows
- Charlotte Baldamus
- Blutauffrischung von Außen - Die Einkreuzung des Samojeden
- Fortsetzung der Zuchtbemühungen
- Meinungsverschiedenheiten - Die Spaltung der "Eurasiergemeinde"
- Die Zuchtgemeinschaft für Eurasier - Ziel und Inhalt der Eurasierzucht
Wie kam der Mensch auf den Eurasier?
Also: Wo fangen wir an? Wenn man die Geschichte der Eurasierzucht insgesamt betrachtet, so fallen einem einige recht markante Persönlichkeiten und Umstände auf, die zur Entwicklung dieser - immer noch neuen und noch lange nicht fertigen - Hunderasse geführt haben. Diese Persönlichkeiten möchte ich ihnen vorstellen. Gleichzeitig nehme ich die Gelegenheit zum Anlass, Sie mit den ursprünglichen Motiven, Ideen und Zielen der Eurasierzucht vertraut zu machen, in der Hoffnung, dass diese Idealvorstellungen als solche im Bewusstsein verbleiben und als Richtschnur der Zuchtarbeit dienen werden.
1949 schrieb Konrad Lorenz sein viel beachtetes Buch "Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen". Es war seine erste Veröffentlichung in Buchform nach seiner Rückkehr aus der russischen Kriegsgefangenschaft ein Jahr zuvor. Wer war dieser Prof. Dr. med. und Dr. phil. Konrad Lorenz?
1903 in Wien, in eine wissenschaftlich fruchtbare Zeit hineingeboren, war er einer der größten Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Er gilt als Vater der Verhaltensforschung und ist Begründer einer neuen philosophischen Schule, der "Evolutionären Erkenntnislehre". Er war einer der populärsten Wissenschaftler unserer Zeit und wie aus einem biographischen Werk von 1983 zu entnehmen ist, war Lorenz bei seinem 80. Geburtstag:
-
- - neunfacher Ehrendoktor,
- - fünffacher Ehrenprofessor Mitglied von neun wissenschaftlichen Akademien und 25 wissenschaftlichen Gesellschaften, Ordinarius für Psychologie und Direktor des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie.
- - Für seine Leistungen wurde er mit dem Orden Pour le Mérite, dem Kalinga-Preis der UNESCO und anderen Auszeichnungen geehrt.
- - Am 10. Dez. 1973 erhielt er den Nobel-Preis für Physiologie und Medizin zusammen mit Carl von Frisch und Nikolaas Tinbergen.
Und worauf wir besonders stolz sein können: er war begeistertes Ehrenmitglied unserer Zuchtgemeinschaft für Eurasier e.V.
In dem oben genannten Buch - das übrigens bis heute ununterbrochen verlegt wird, beschreibt Lorenz die wesentlichsten Erkenntnisse und Gedanken seines bisherigen Lebens und seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in einer unglaublich lebendigen und gut verständlichen Form. Da ist die Rede von Wölfen, Fischen, Graugänsen, Enten und von berühmt gewordenen Tierpersönlichkeiten etwa von der Dohle „Tschock“, von dem Gänsekind „Martina“. Begriffe wie „Prägung“ oder die „Spontaneität von Instinkthandlungen“, „Kindchenschema“ und sehr viel andere, heute selbstverständlich gewordene Begriffe, sind Entdeckungen von Konrad Lorenz. Mit seinen lebendigen Darstellungen konnte er viele Menschen für seine Wissenschaft begeistern – und gerade für uns Hundefreunde ist es interessant, dass viele namhafte Kynologen und Verhaltensforscher über dieses Werk zur Biologie fanden und einige davon sogar Konrad Lorenz-Schüler wurden oder seinen Spuren folgten.
Was uns aber viel mehr interessiert, ist ein Kapitel in diesem besagten Buch mit der Überschrift „Treue ist kein leerer Wahn“, welches dem Hund gewidmet ist. Für Konrad Lorenz, der stets von Tieren umgeben lebte, – seine Wohnung glich einer „Arche“ - war ein Leben ohne Hunde nicht vorstellbar. Er hatte meist mehrere davon gleichzeitig, die er auch sehr sorgfältig beobachtete. Dabei hat er vieles gesehen, was andere möglicherweise auch sahen, mit dem entscheidenden Unterschied: Er hat es mit den Augen des aufmerksamen Wissenschaftlers gesehen und er hat sich seine Gedanken darüber gemacht. In dem genannten Kapitel spekuliert Lorenz darüber, wie sich das Wildtier - Wolf bzw. Schakal - dem Menschen angenähert, und wie sich die Domestikation - die Entwicklung zum Haustier Hund - im Laufe der Jahrtausende vollzogen haben könnte.
Lorenz geht auf die heute angetroffenen Hunde ein, die er in zwei Hauptgruppen aufteilt. Einmal in die Gruppe der nordischen Hunde - er nennt sie "Canis Lupus", weil sie noch mehr wölfisches Verhalten zeigen als die Vergleichsgruppe der hoch domestizierten Rassen wie etwa die mitteleuropäischen Haus- und Gebrauchshunde. In dieser zweiten Gruppe vermutete er einen stärkeren Anteil an Goldschakal-Blut ("Canis Aureus"). Er ging davon aus, dass unsere Hunde sowohl Lupus als auch Aureusblut führen, jedoch mit unterschiedlichen Anteilen.
Diese Herkunfts-Annahme hat sich später als falsch erwiesen. Wie Alfred Seitz, Erik Zimen, Eberhardt Trumler, und andere namhafte Kynologen inzwischen festgestellt haben, stammt der Hund mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließlich vom Wolf ab. Konrad Lorenz war stolz darauf, dass es seine eigenen Schüler waren, die seine Annahme widerlegt haben.
Das tut im Prinzip hier nichts zur Sache, weil es die reine Entwicklungsgeschichte der Caniden (Hundeartigen) betrifft, nicht aber die eigentliche Substanz der beschriebenen Beobachtungen und Aussagen. Diese Begriffe sollen also hier nur zur Beschreibung der unterschiedlichen Eigenschaften dienen. Lassen wir es dabei, um den Zitaten von Lorenz besser folgen zu können. Zu den Lupushunden zählte er Rassen wie Lappenhunde, russische Lajkas, Samojeden und Chow-Chows, wobei er in den nordamerikanischen Malamuten den stärksten Lupus-Anteil vermutete. Als Aureushunde bezeichnete er Rassen wie die Deutschen Schäferhunde, Doggen, Pudel, Jagd- und Gebrauchshunde etc.
Ganz besonders beeindruckte Lorenz die Bindung des Hundes an einen bestimmten Menschen, die er Herrentreue nannte; ein Vorgang, der sich in einer "empfänglichen Periode" innerhalb weniger Tage vollzieht - wobei diese Entwicklung beim Lupushund mit etwa sechs Monaten wesentlich früher zu erkennen ist, als beim Aureushund. Den Charakter des Lupushundes beschreibt Lorenz wie folgt: "Die zurückhaltende Exklusivität und der kämpferische Zusammenhalt um jeden Preis sind die Eigenschaften des Wolfes, die den Charakter aller lupusblütigen Hunderassen in einem sehr günstigen Sinne beeinflussen und sie vorteilhaft von den Aureushunden unterscheidet." Und weiter: "Hat ein Lupushund hingegen einmal einem Menschen den Treueeid geleistet, so bleibt er für immer dieses einen Mannes Hund; ein Fremder kann ihm auch nicht einmal einen einzigen Wedler seiner buschigen Rute abgewinnen. Kein Mensch, der die Einherrentreue eines Lupushundes besessen hat, wird jemals wieder mit einem Aureushund glücklich sein"… "Außerdem ist ein lupusblütiger Hund trotz seiner maßlosen Treue und Anhänglichkeit nicht unterwürfig. Er stirbt, wenn er dich verliert, aber einen wirklichen Appell bringst du ihm ums Verrecken nicht bei. …. Ein Lupushund hat viele Eigenschaften eines großen, katzenartigen Raubtiers; er ist zwar dein Freund bis zum Tode, aber niemals dein Sklave. Obwohl er deiner Person zum Leben nicht entraten kann, führt er ein sehr bestimmtes, eigenes Privatleben".
Den Aureushund beschreibt Lorenz als einen Hund, dem als Folge seiner uralten Domestikation seine jugendliche Abhängigkeit und Anhänglichkeit dauerhaft erhalten geblieben ist, die ihn damit zum folgsamen und angenehmen Weggenossen des Menschen macht. Er kommt gerne, wenn man ihn beim Namen ruft, wartet ergeben auf den leisesten Wunsch, den er augenblicklich auszuführen trachtet: "Ein solcher Hund, der der Hund aller Welt ist, kommt einem naturgemäß leicht abhanden, da er mit jedem Fremden vertraut wird, der ihn freundlich anspricht. Aber ein Hund der mir gestohlen werden kann, der kann mir gestohlen werden!" Lorenz schätzte trotz der Hochachtung für den Lupushund auch den unvergleichlichen Gehorsam des Schäferhundes "andererseits" so schreibt er weiter, "sind die edlen Raubtiereigenschaften des Lupushundes, die Sparsamkeit im äußeren Ausdruck dieser großen Liebe, kurz, die innere Vornehmheit nicht weniger großartig; dem hat wiederum kein Aureushund Ähnliches entgegen zu setzen. Aber beides zusammen kann man nicht haben. Kann man das wirklich nicht?"
Nun erzählt er die Geschichte von seinem Schäferhundrüden Bubi und der Chowdame Pygi, von der ungeplanten Hochzeit der beiden und dem Beginn seiner Chow-Schäferhundzüchtung. Aus dieser Zufalls-Verpaarung behielt Lorenz eine Hündin namens "Stasi". Stasi war anders als erwartet: Sie hatte alle guten Eigenschaften der beiden Ausgangsrassen ideal in sich vereinigt. Lorenz schrieb: "Dies gelang über alles Erwarten gut. Während sonst im allgemeinen Rassekreuzungen allzuhäufig gerade die schlechten Eigenschaften beider Elternarten in sich vereinigen, war hier in ausgesprochenem Maße das Gegenteil der Fall...".
(alle Zitate aus: Konrad Lorenz, Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen, 4. Auflage, März 1965, DTV München)
1950 erschien das Buch "So kam der Mensch auf den Hund". Ein großartiges Werk, es ist DAS Hundebuch an sich, von dem Horst Stern in den 70er Jahren sagte: "Man könnte so gut wie alle anderen Hundebücher verramschen, und es ginge nichts Wesentliches an elementarem Hundewissen verloren."
In diesem Buch ging Lorenz auch ausführlich auf die besonderen Charaktereigenschaften des Chow-Schäferhund-Mischlings "Stasi" ein. Was er da beschreibt, sind exakt die erwünschten Charaktereigenschaften unseres Eurasiers. Übrigens, diese "Stasi" lebte schon lange bevor Lorenz der Berufung zum Ordinarius für Psychologie an der Universität Königsberg folgte, und das war im September 1940.
Hier möchte ich Ihnen einmal ein zuverlässig datiertes Foto eines Chow-Chows vorstellen, aufgenommen 1940 in Erfurt, damit Sie auch sehen von welchem Typ von Chow-Chow hier die Rede ist. Der heutige Chow-Chow hat sich deutlich von diesem Phänotyp entfernt.
Julius Wipfel - Der Vater des Gedankens?
Ortswechsel: In Weinheim an der Bergstraße hatte sich die junge Familie Wipfel nach dem Krieg niedergelassen. Der Familienvater Julius war ein Hundenarr, der auch immer mit Hunden gelebt hatte. Schon in seiner Jugend war er fasziniert von den Berichten und Beschreibungen über die Nordischen Schlittenhunde. Wie der Zufall so spielt, fand Herr Wipfel einen solchen Hund in einem Tierheim, der vermutlich von in Mannheim stationierten kanadischen Truppen zurückgelassen wurde (daher auch der Name Kanadier).
Der Kanadier war, nach Wipfels späterer Beschreibung, ein vollkommener Schlittenhundtyp, der sich erstaunlicherweise sofort gut einlebte. Vom dritten Tag an ließ er keine Fremden in die Wohnung und machte sich selbst zum Bewacher ihres Sohnes. Er verblüffte täglich neu durch seine einmalige Intelligenz, sowie durch den ihm eigenen Reiz seines Wesens, das allerdings nicht immer in die häuslichen Verhältnisse passte. Julius Wipfel berichtete von einem zunehmend unbändigen und gefährlichen Benehmen gegenüber fremden Menschen: "Er war anders intelligent und anders gefährlich als unsere Hunde". Trotzdem war dieser "geliebte schwarze Teufel" in seiner Art eine faszinierende Hundepersönlichkeit.
Mitte der Fünfziger Jahre suchte man im Haus Wipfel nach einem würdigen Nachfolger - den es natürlich nicht gab - worauf man sich für die Wolfspitzhündin "Bella von der Waldmühle" entschied. Den Vergleich mit dem "Kanadier" konnte Bella jedoch nicht halten, so angenehm und schön sie auch war. Eines Tages sagte Frau Wipfel (Zitat Julius Wipfel) "….ganz einfach, wie es Frauen eben so tun": "Züchten wir doch für uns allein einen Hund so ähnlich wie der Kanadier und unsere Bella". Wipfel, inzwischen im Spitzklub engagiert, verschlang nun alles was an Hunde-Literatur erreichbar war. Wipfel: "Nicht nur durch Zufall stieß ich auf die 'Lorenz- Literatur'. Seine Zufallskreuzung Chow- Schäferhund machte mich hellhörig, die Beschreibung des wunderbaren Wesens des Chow-Abkömmlings begeisterte mich sofort." ("20 Jahre Eurasier-Zucht 1980"). Nun wollte Wipfel die Rasse Chow-Chow etwas näher kennen lernen; er lernte sie nicht nur kennen, er wurde später sogar Spezialzuchtrichter für diese Rasse. "Glückliche Zufälle sind nicht ohne weiteres wiederholbar", sagte einmal Werner Schmidt mit Blick auf die Eurasierzucht. Aber gilt dies nicht auch für Menschenbegegnungen? Im März 1959 - Bella von der Waldmühle stand vor ihrem ersten Wurf - schrieb Elfriede Wipfel an Familie Baldamus einen Brief, der so beginnt: "Sehr geehrte Familie Baldamus! Von unserem Sportsfreund Schneider in Rastatt erfuhren wir kürzlich, dass Sie an einem Wolfspitz interessiert sind, aber die Rasse selbst nicht kennen. Ich möchte Ihnen hierzu folgende Erläuterung geben...".
Im Folgenden beschreibt sie nun sehr ausführlich die Rasse, ihre Vorzüge und Besonderheiten und auch ihre Erwartungen an den Halter. Herr Baldamus hatte mal etwas von einem "Polarhund" gehört und dachte daher wohl eher in diese Richtung, worauf ihn Frau Wipfel sogleich aufklärte, dass er, wenn er den Samojeden meint, in Deutschland kaum etwas finden würde; eher in Österreich oder in der Schweiz. Wenn er aber den "braunen Chow-Chow" meine, so rate sie ihm dringend davon ab, da diese (Zitat) "asiatischen Importhunde sehr stark Wolfsblut führend sind und somit fast ausnahmslos wildern".
"Asta von der Bergstraße", eine Tochter von Bella von der Waldmühle, landete später auf dem Mittelberg bei Familie Baldamus und wurde somit die Stammmutter des Zwingers "vom Jägerhof", dem wohl bedeutendsten Eurasierzwinger überhaupt.
Es begann die züchterische Zusammenarbeit zwischen Julius Wipfel und Charlotte Baldamus. Julius Wipfel hatte sich für den Start der Wolfs-Chow-Zucht gut vorbereitet: Einem Versuch nach dem Lorenz'schen Beispiel, einen Hund zu züchten, der die besten Eigenschaften - um bei dem Lorenz'schen Begriff zu bleiben - des Aureushundes und des Lupushundes in sich vereinigt.
Hierzu hat er folgerichtig den Chow-Chow ausgewählt - er bringt jenen, alles entscheidenden besonderen Charakter der "Nordischen" mit. Partner sollte der Wolfspitz sein, eine uralte Rasse, deren historische und prähistorische Wurzeln direkt auf den Torfspitz verweisen. Eine kluge Entscheidung, obwohl Wipfel, wie er gelegentlich durchblicken ließ, sehr gerne auch eine Linie mit Samojeden getestet hätte, wenn er welche gehabt hätte….Andererseits war seine Entscheidung natürlich auch eine bequeme; schließlich war die eigene Wolfspitz-Hündin und deren Nachkommen für ihn gut zugänglich.
Also wurden zwei uralte Spitzrassen - der Chow-Chow aus Asien stammend und der Europäische Wolfspitz - mit einander gekreuzt, oder besser gesagt gemischt, denn es sind ja Tiere der gleichen Art - mit dem Ziel die besten Eigenschaften beider Rassen zusammenzuführen.
Die planmäßige Zucht des Wolf-Chows
Nun, wie ist das, wenn man eine Zucht aufbauen will? Man definiert ein Zuchtziel und man entscheidet sich für eine Methode nach der man vorgehen will, um dieses Zuchtziel zu erreichen.
Julius Wipfel hat sein Zuchtziel wie folgt definiert:
Es soll ein Polarhundtyp sein, mit schönen, attraktiven Farben und einem reizvollen, unseren Verhältnissen angepassten Wesen. Es soll ein eigenständiger, vom Wolfspitz und Chow-Chow abgegrenzter Typ sein.
Exkurs Zuchtplan
Ausgehend von der Kombination verschiedener Paare, die möglichst viele der erwünschten Merkmale bereits mitbringen, können folgende grundsätzlichen Methoden zur Anwendung kommen: Methode A Systematische Verpaarung der Ausgangstiere untereinander, rotierend, also A x B, C x D, E x F, dann A x D, C x F, E x B usw. - so oder ähnlich - und Weiterzucht mit den besten F1-Ergebnissen. Diese Methode scheidet wohl in der reinen Form bei kleinen Hundpopulationen aus, da zu viele, unterschiedliche Tiere anfallen - die zudem auch noch gut untergebracht werden müssen. Sie eignet sich mehr für Hühner- und Kaninchenzüchter o.ä., die dann sehr praktische Lösungen für den entstehenden Überfluss finden, welche Hundezüchtern nicht zugänglich sind… Methode B Inzestzucht mit geeigneten F1-Nachkommen innerhalb der eigenen Gruppe mit strenger Selektion, später Verpaarungen der besten Tiere der Linie mit den besten der anderen Linien usw. Diese Methode stellt für kleine Populationen einen eher angemessenen und wirksamen Start dar, ist aber leider nur den "vom Glück verfolgten Kennern und Könnern" vorbehalten. Sie führt zu raschen Ergebnissen, kann aber nur über wenige Generationen fortgeführt werden. Anschließend ist, wegen der dramatisch ansteigenden Homozygotität (Erbgleichheit), eine Genpoolerweiterung mit Tieren anderer, im Idealfall parallel gezüchteter Linien erforderlich, die ebenfalls die erwünschten, jedoch nicht herkunftsgleichen Merkmale tragen, also nicht verwandt sind. |
Die für den Zuchtplan ausgewählten drei Chow-Chow-Rüden, zweimal rot, einmal schwarz, bezeichnete Wipfel als doggenhaft und schwerknochig, die vier Wolfspitz-Hündinnen (seine eigene Hündin und drei Töchter aus deren A-Wurf) alle spitzhaft, leichtknochig und grau. (siehe Wipfel, "20 Jahre Eurasierzucht", 1980). Zwei der vier eingesetzten Wolfspitze wurden zweimal mit unterschiedlichen Rüden aus der gleichen Rüdengruppe eingesetzt.
Der erste Wurf fiel am 22. Juni 1960
Zwingername/Wurfdatum |
Ursprungsverpaarung |
F1 - Generation |
B von der Bergstraße 22.06.1960 Julius Wipfel |
Aroko vom Felsensteig (R), Chow- Chow (rot) Bella von der Waldmühle (H), Wolfsspitz |
R: Buc H: Bärle, Bessy |
Avom Hexenturm 06.04.1961 Ulrike Rosenkranz |
Pollo-Pong Ko-San-Lo (R), Chow- Chow (rot) Annet von der Bergstraße (H), Wolfsspitz |
R: Arko, Amor H: Anuschka, Anja |
B vom Jägerhof 17.12.1961 Charlotte Baldamus |
Pollo-Pong Ko-San-Lo (R), Chow- Chow (rot) Asta von der Bergstraße (H), Wolfsspitz |
R: Björn, Billi, Brumbo, Bari H: Berit |
C von der Bergstraße 20.09.1962 Julius Wipfel |
Igor Kwy-Chu-Florian (R), Chow- Chow (schwarz) Bella von der Waldmühle (H), Wolfsspitz |
R: Casan, Charly, Cuki H: Chiky, Caris |
B vom Hexenturm 28.11.1962 Ulrike Rosenkranz |
Igor Kwy-Chu-Florian (R), Chow- Chow (schwarz) Annet von der Bergstraße (H), Wolfsspitz |
R: Berno, Bongo |
B vom Weinheimer Schloss 29.08.1964 Martha Schell |
Igor Kwy-Chu-Florian (R), Chow- Chow (schwarz) Anka von der Bergstraße (H), Wolfsspitz |
R: Blaky, Berno H: Blanka, Britta |
Anmerkungen:
(1) Namen gem. Eurasier Datenbank der Zuchtgemeinschaft für Eurasier e.V.
(2) R = Rüde
(3) H = Hündin
(4) grün: Erzüchtung der F2-Generation mit Wolf-Chows der F1-Generation
(5) Der A-Wurf "vom Jägerhof" (Pollo-Pong Ko-San-Lo x Asta von der Bergstraße, 11.05.1961) ist bedeutungslos, da er leider mit vier Wochen in Folge einer Infektion verendete.
Der B-Wurf "vom Jägerhof" ist bei dieser Ursprungsverpaarung besonders hervorzuheben, da er aus heutiger Sicht als der wichtigste Wurf der Eurasiergeschichte betrachtet werden muss. Die Geschwister Brumbo und Berit vom Jägerhof waren die Stammeltern der Jägerhof-Linie, aus deren Nachzucht viele Eurasier-Zwinger gegründet wurden. Ja, man könnte heute sagen: Es gibt kaum einen echten Eurasier, der kein Jägerhof-Blut führt.
Insgesamt gab es also in den frühen Jahren sechs brauchbare F1-Würfe und die "Wolf-Chow- Zucht" wurde somit auf den Weg gebracht.
Allerdings entsprach die F1-Generation (= erste Kreuzungs-Generation) leider nicht so recht Wipfels Auslegung der Mendel'schen Gesetzgebung; er versuchte eine andere Klassifizierung der Ergebnisgruppen:
Typ I: Mischtypen
Typ II: Wolf-Dingo-Typen
Typ III: Polarhundtypen
Zur Weiterzucht wird der Typ III für brauchbar gehalten:
Weiterverwendung der F1-Hunde
Zwinger |
Rüde |
Hündin |
Bemerkungen |
|
A - Wachenburg |
Armor vom Hexenturm |
x |
Bärle von der Bergstraße |
|
E - Pflänzerland |
Berno vom Hexenturm |
x |
Assy von der Wachenburg |
|
B - Wachenburg |
Berno vom Weinheimer Schloß |
x |
Bärle von der Bergstraße |
keine Nachzucht |
C - Wachenburg |
Droll vom Jägerhof |
x |
Bärle von der Bergstraße |
|
C - Weinheimer Schloss |
Droll vom Jägerhof |
x |
Britta vom Weinheimer Schloß |
|
D - Weinheimer Schloss |
Conny vom Weinheimer Schloß |
x |
Britta vom Weinheimer Schloß |
Weiterverwendung der F1-Hunde im Zwinger vom Jägerhof
Zwinger |
Rüde |
Hündin |
Bemerkungen |
|
C - Jägerhof |
Brumbo vom Jägerhof |
x |
Berit vom Jägerhof |
F2 |
D - Jägerhof |
Brumbo vom Jägerhof |
x |
Berit vom Jägerhof |
F2 |
E - Jägerhof |
Brumbo vom Jägerhof |
x |
Cara-Lu vom Jägerhof |
Rückpaarung auf den Vater |
F - Jägerhof |
Brumbo vom Jägerhof |
x |
Berit vom Jägerhof |
F2 |
G - Jägerhof |
Brumbo vom Jägerhof |
x |
Cara-Lu vom Jägerhof |
F2-Rückpaarung auf den Vater |
H - Jägerhof |
Droll vom Jägerhof |
x |
Berit vom Jägerhof |
F2-Rückpaarung auf die Mutter |
Charlotte Baldamus
An dieser Stelle soll nun auf eine Persönlichkeit eingegangen werden,
der in der Geschichte der Eurasierzucht eine fundamentale Rolle zuzuschreiben ist:
Charlotte Baldamus. Spätestens beim B-Wurf und bei der Aufzucht der Welpen hatte sie erkannt, dass diese Hunde etwas ganz Besonderes sind.
Ihre Erfahrung und ihr sicherer Blick für den Zuchtwert eines Tieres hat Frau Baldamus nicht nur bei ihrer Geflügelzucht geholfen. Ganz besonders profitierte davon die frühe Eurasierzucht. Mit unglaublicher Sicherheit erkannte Baldamus stets die geeigneten Tiere eines Wurfes und setzte diese konsequent ein. Es kam ihr dabei zu Gute, dass sie das Instrument der Inzucht und Inzestzucht aus ihrer früheren Praxis heraus virtuos beherrschte. So baute sie im Einvernehmen mit Julius Wipfel - der wohl bald erkannte, was er an ihr hatte - ihre Jägerhof-Linie auf, eine Inzestzucht bis zur fünften Generation ohne erkennbare „Schäden" und legte damit den Grundstein für die gesamte nachfolgende Eurasierzucht.Im Jahre 1910 in Königsberg/Ostpreußen geboren, wuchs Charlotte Willfang in einer behüteten Kindheit in einer bürgerlichen Familie auf. Während ihr älterer Bruder (Dr. Georg Willfang, späteres Gründungsmitglied der ZG) ein Studium aufnehmen konnte, musste sie schon früh zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Sie verband das Notwendige mit ihrer schöpferischen Kreativität und begann eine Geflügelzucht mit Herdbuchtieren aufzubauen. So erlernte sie in den 30er und 40er Jahren die Vererbungslehre aus der Praxis heraus kennen. Doch der Krieg hat alles vernichtet. Als Heimatvertriebene fand sie in Baden eine neue Heimat, wo sie Wolfgang Baldamus - ebenfalls ein Ostpreuße - traf und im Mai 1950 heiratete. Bald danach erwarben sie den Jägerhof in Mittelberg, den sie mühsam bewirtschafteten. Frau Baldamus baute erneut eine Geflügelzucht auf, deren Erlös sie im nahen Ettlingen selbst vermarktete. Herr Baldamus nahm später einen Industrie-Arbeitsplatz in Gaggenau an, und die Landwirtschaft lief nebenher.
Die Tiere entsprachen schon weitgehend im Erscheinungsbild und im Verhalten den Idealvorstellungen. Charlotte Baldamus, geprägt von Not und Elend der Kriegs- und Nachkriegstage, war eine außergewöhnlich starke Persönlichkeit, wie sie die heutige Zeit kaum noch hervorzubringen im Stande wäre. Ihre Markenzeichen war Willensstärke, Geradlinigkeit, Ehrlichkeit, gnadenlose Offenheit, aber auch Herzlichkeit. Die Eurasier und die Eurasierleute erfüllten ihr Leben und der Mittelberg wurde im Laufe der Zeit zum Forum und zum Zentrum der Eurasierzucht. Der Jägerhof war ein weltoffenes Haus. Gäste waren nicht nur stets willkommen, nein, Gäste aus der ganzen Republik und aus dem nahen Ausland waren - zumindest am Wochenende - stets anwesend ... mit Hunden versteht sich. Der Spruch auf einem Küchentuch an der Wand sagte alles aus: Fünf sind geladen - Zehn sind gekommen - Schütt' Wasser in die Suppe - Heiß' alle willkommen.
Der Eurasier war natürlich Thema Nr.1: Zucht, Verhalten und Besonderheiten. Auch Erlebnisse wurden zum Besten gegeben, Beobachtungen und Meinungen wurden ausgetauscht und es wurde viel gelacht. Wer in der Fachecke mitdiskutieren, oder gar der Chefin widersprechen wollte, hatte tunlichst nicht "daherzuschwätzen", sondern handfeste Argumente vorzubringen. Ja, es konnte bei den Wortgefechten auch heftig werden. In der anderen Ecke der guten Stube hatte Herr Baldamus das "nicht-so-eurasier- fachkundige" Begleitpersonal um sich versammelt. Hier wurden die "wirklich wichtigen" Probleme der Welt- und
Landespolitik, des Sports und der Agrarwirtschaft besprochen und entschieden. Unqualifizierte Diskussionseinwürfe seitens der Politiker in die Züchterdiskussion wurden jedoch rigoros geahndet. "Karli, halt dich da raus, davon verstehst du nix!"
Die Zucht nach Wipfels Zuchtplan (sie entsprach ursprünglich dem o.g. Beispiel der systematischen Verpaarung - Methode A - allerdings mit Selektion) konnte aus den bereits genannten Gründen nicht konsequent durchgehalten werden und es wurde bereits früh zwischen den Linien verpaart. Erschwerend kam hinzu: Viele Hundebesitzer waren an der Zucht einfach nicht interessiert oder die Hunde-Typen entsprachen einfach nicht den Vorstellungen. Dazu muss man wissen, dass der Hund damals noch nicht den Stellenwert in Hof und Haus hatte, wie das heute der Fall ist. Man war froh die "komischen Mischlingshunde" irgendwo unterzubringen. Die häufigsten Todesursachen jüngerer Hunde waren "überfahren" und "erschossen". So musste man zur Zucht nehmen, was zur Verfügung stand und das Beste daraus machen.
Blutauffrischung von Außen - Die Einkreuzung des Samojeden
Charlotte Baldamus verfolgte dagegen im Jägerhof konsequent die Methode B (Inzestzucht). Geübt durch ihren Beruf, hatte sie einen sicheren Blick für die richtigen Tiere. Dieser Selbstständigkeit stand Wipfel, der die Fäden nicht aus der Hand geben wollte, anfangs skeptisch gegenüber. Es dauerte wohl eine Weile bis er begriff, was er an der Geflügelzüchter-Meisterin vom Mittelberg hatte. Bald setzte man Jägerhof-Tiere breit ein - ja sogar zu breit: "Droll vom Jägerhof" wurde von 1967 bis 1971 mit wenigen Ausnahmen als einziger Deckrüde genutzt - zur "Vereinheitlichung des Typs" wie man damals sagte, was den Inzuchtkoeffizienten der jungen Rasse dramatisch hochschnellen ließ.
Hinzu kam, dass viele Zwinger mit Jägerhof-Tieren gegründet wurden. Julius Wipfel wandte sich in dieser Zeit an das Institut für Tierzucht und Haustiergenetik der Universität Göttingen woraufhin ihm Frau Prof. Dr. Ruth Gruhn empfahl "..recht bald zu einer entfernteren Verwandtschaftsverpaarung zu kommen". Sie ging in ihrem Rat, der im Wesentlichen auf der verbesserten "Methode A" basierte, davon aus, dass immer noch sechs getrennte Zuchtlinien bestehen - was real längst nicht mehr der Fall war. Aber auch dieser neue Plan war nicht einzuhalten. So ergab sich die dringende Notwendigkeit einer Blutauffrischung von außen. Julius Wipfel hatte bereits 1964 für eine Einmischung des Samojeden geworben (Zuchtausschusstagung v.19.1.1964). Bis zum April 1965 hatte man jedoch noch keinen geeigneten Samojedenrüden gefunden und man spielte sogar mit dem Gedanken - gewissermaßen als Notlösung - einen Deutschen Schäferhund einzumischen, was jedoch unterblieb. Die geliebte Samojeden-Idee konnte Wipfel erst 1972 verwirklichen - mit wenig Begeisterung in Mittelberg: Für Charlotte Baldamus, die unbeirrt bei Ihrer Methode blieb, war es noch zu früh um weitreichende Experimente durchzuführen, bevor man nicht genug über die eigenen Hunde weiß. Viel lieber wäre es ihr gewesen, brauchbare Tiere aus anderen Inzuchtlinien zu haben, um den Genpool auf diese Art zu erweitern. Aber da war nichts zu holen. Mehr als 90% aller verfügbaren Zuchttiere führten irgendwo in den ersten Generationen Jägerhof-Blut.
Eine neue Figur betrat das Spielfeld der Eurasierzucht: Eines Tages, es muss im Januar 1970 gewesen sein, meldete sich ein junger Mann, Werner Schmidt, als Welpeninteressent in Mittelberg. Mit Begeisterung hatte er 1963 das Buch "Er redete mit dem Vieh…." und "So kam der Mensch auf den Hund" gelesen und es reifte der Wunsch, einen Hund wie Stasi zu besitzen. 1965 hatte er noch bei Konrad Lorenz im Max Planck-Institut, Seewiesen, die Nachfahren solcher Hunde gesehen, ebenfalls in Altenberg ein Jahr später. Doch der Diplom-Biologe musste erkennen, dass die Lorenz´sche Zucht nicht weiterging. 1969 las er in Eberhardt Trumlers Literatur erstmals etwas über den Wolfs-Chow. So kam er über den Kynologen Trumler (ehem. Berater und Ehrenmitglied der ZG) und Wipfel zu Frau Baldamus in Mittelberg. Als er damals Cara und Jerry sah, war ihm klar: Das ist der gesuchte Hund und er bestellte sich gleich einen Welpen von Cara, die den nächsten Wurf haben sollte. Baldamus: "Ich sah sofort, dass er von den Hunden fasziniert war". Exkurs: Konrad Lorenz und die Eurasier
Werner Schmidts erste Hündin war "Lotus vom Jägerhof". Als Schmidt 1972 Doktorand bei Konrad Lorenz wurde, lernte dieser seine Hündin kennen und war ebenfalls sofort begeistert. "Sie erinnert mich an meine Stasi, zum verwechseln ähnlich. So einen Hund will ich haben". Da sich Lotus beim ersten Versuch nicht decken ließ, holte er sich 1972 eine schwarz-marken-farbige Hündin "Nanette vom Jägerhof", die er "Babett" nannte und die er später als die "charakterlich beste Hündin bezeichnete, die er je besessen hatte". Man mag sich vorstellen, welche Überraschung und was für ein Gefühl es für Charlotte Baldamus war: Konrad Lorenz, dessen Schriften, Gedanken und Erfahrungen ihr stets als Leitfaden dienten, bestellt ausdrücklich eine Hündin aus IHRER Zucht und stellt diese in seiner späteren Beurteilung sogar über alle anderen Hunde, die er jemals besessen hatte!
Hier schließt sich der Kreis: Konrad Lorenz wurde von seiner eigenen Idee eingeholt. Er wusste von der neuen Rasse "Eurasier" bisher absolut nichts! Was nun hatte Konrad Lorenz mit dieser Rasse zu tun? Alles? Oder Nichts?
Konrad Lorenz holte seine Hündin, wie sich das gehört, selbst bei der Züchterin ab und es entstand ein langjähriger,
freundschaftlicher Gedankenaustausch und Briefwechsel. Nur mit dem Körperbau seiner "Babett"
war Herr Professor nicht ganz zufrieden, wie er schrieb: "Ich möchte furchtbar gerne probieren einen
Schuss Husky-Blut in unsere Hunde hineinzuzüchten. Chow und Wolfspitz machen unsere Tiere zu ringelschwänzig. Babett's Popo ist zwar liebenswert und komisch, aber nicht ernst genug für einen Hund, der vorne einem Wolf ähnelt."
Im Gegensatz zu Konrad Lorenz war Julius Wipfel von der "Samojeden-Idee" überzeugt. Aber zum Zeitpunkt dieser Diskussion war der Samojede sowieso schon mehrfach eingekreuzt. Auch Dr. Werner Schmidt war ein Befürworter der Neueinmischung, die er als Biologe natürlich mit anderen Augen sah als Wipfel und Baldamus.
Der Samojedenrüde "Cito vom Pol" (alias "Orion von der Bergstraße") wurde von 1972 bis 1977 in folgenden Würfen eingesetzt:
• C vom Stechersee WT 27.03.1972
• A vom Römerturm 25.08.1972
• D vom Stechersee 11.10.1972
• A vom Birkenbruch 28.11.1972
• A vom Urdbrunnen 15.06.1973
• A vom Hasenleiser 24.02.1974
• K vom Stechersee 12.02.1976
• L vom Stechersee 11.04.1977.
Das war sicher der größte Einschnitt in der frühen Eurasierzucht.
Fortsetzung der Zuchtbemühungen
- Ebenfalls 1972 fand eine weitere Ursprungsverpaarung statt mit dem Wolfspitzrüden "Astor v. Teck" und der Chow-Hündin "Aina Piz D´Hiver", die 1973 wiederholt wurde (Wittekindsburg A + B).
- Ein weiterer Chow-Rüde, der vergleichsweise elegante "Darius vom Schrattenbach", kam hinzu, er wurde mit der Halb-Samojedin "Alraune vom Birkenbruch", (Tochter aus Cito vom Pol x Lotus vom Jägerhof) im Zwinger "vom Blumenhag" verpaart. Die daraus hervorgegangenen Rüden "Boris" und "Bingo" hatten einen großen Einfluss in der Zucht. Der dritte Rüde "Brummi" hatte einen einzigen, traumhaft schönen Wurf (D vom Weissdornhag), der jedoch nicht eingesetzt werden konnte (Schecken- und Weißträger).
- Eine weitere echte Ursprungsverpaarung mit "Darius vom Schrattenbach" mit der Wolfspitzhündin Asta von Solln im Zwinger vom Nixensee ist leider in der übernächsten Generation wegen massiver HD gescheitert.
Das war die erste große Serie von Maßnahmen, um die Population auf eine breitere genetische Basis zu bringen. Die Ergebnisse differierten stark, so dass eine lange Selektions- und Testphase eingeplant werden musste, die bis in die heutige Zeit andauert. Die Wittekindsburg-Nachkommen wurden nur vorsichtig eingesetzt, da offensichtlich eine gewisse Unsicherheit herrschte, die man insbesondere im Zwinger vom Stechersee züchterisch durchleuchtete. Bemerkenswert: Sowohl in der Samojeden-Einmischung als auch in den neuen Ursprungsverpaarungen fand man nicht den Typ und das großartige Verhalten der Jägerhofhunde. Allgemein musste man feststellen, dass die Hunde fremdenfreundlicher geworden waren. Einzig die Blumenhag-Linie fiel durch ein großartiges Sozialverhalten und durch ein zurückhaltendes, angenehmes Wesen auf. Hier war es die HD-Belastung, die besonders berücksichtigt werden musste.
1984 entstand eine neue Ursprungsverpaarung "vom Unland" im EKW, die die ZG zunächst förderte, aber 1990 wegen diverser Stoffwechselstörungen der Nachkommen wieder aufgeben musste. Es gehört eben auch Glück dazu.
Die folgenden Bilder zeigen Zuchtergebnisse der zweiten und dritten Generation nach der Einmischung des Samojeden und nach den Wittekindsburg- und Nixensee- Ursprungsverpaarungen bzw. einer weiteren Chow Einmischung. Die Beispiele zeigen, wie vielfältig die Aufspaltungen in den folgenden Generationen ausfallen können. Dabei war Boris vom Blumenhag mit über 50 direkten Nachkommen einer der wichtigsten Vererber ...
... Beispiele seiner direkten Nachkommen sind ...
Als weitere Beispiele der Typenvielfalt in dieser Zuchtphase sind zu nennen: Der bildschöne Brummi vom Blumenhag-Sohn Drusus vom Weissdornhag, die F2-Hündin Donna v.d. Wittekindsburg, der Kurz- bzw. Stockhaar-Eurasier Cäsar vom Hermareg, aber auch Asa vom Blumenhag, die Stammutter der Stratenhoflinie mit je 25% L-Jägerhof-Eurasier, Samojede, Wolfspitz und Chow:
Rurik vom Jägerhof, seine Nachkommen und die hier gezeigten vergleichbaren Eurasier vertreten beispielhaft die Generationen der Rückpaarungen auf Jägerhoftiere. Dies war erforderlich um die Streubreite im Erscheinungsbild und im Verhalten einzugrenzen, und um die Jägerhof-Eigenschaften und Merkmale zu sichern. Gleichzeitig konnte die HD-Belastung auf ein erträgliches Maß reduziert werden.
Der gesamte Zeitraum stellte eine durch intensive, schwierige und immer wieder von Rückfällen geprägte Phase der Eurasierzucht dar. Es war die Zeit der ersten Samojeden-Einmischungen, es wurden die Inzuchtfolgen und die ersten Anzeichen einer drohenden Inzuchtdepression erkennbar und vieles mehr. Die meisten dieser Defekte und Mängel konnte der Samojede zwar mit einem Schlag wegwischen, doch die Sicherheit war trügerisch.
1973 wurde die Aufnahme in den Dachverband VDH beantragt - die Verhandlungen führte Dr. Werner Schmidt. Der Rassename "Wolf-Chow" wurde jedoch, auf Antrag des Chow-Chow-Klubs wegen Verwechslungsgefahr abgelehnt. So musste ein neuer Namen gesucht werden. Von Frau Dr. Jander, der späteren Hauptzuchtleiterin im EKW, kam die Idee den Hund zu Ehren von Konrad Lorenz "Lorentiner" zu nennen, was dieser dankend ablehnte, mit der Begründung, er brauche noch ein paar Jahre Bedenkzeit, in der Hoffnung auf ein mehr wölfisches Erscheinungsbild. So kam Julius Wipfels Vorschlag zum Zuge mit dem treffenden Namen "Eurasier".
Meinungsverschiedenheiten - Die Spaltung der "Eurasiergemeinde"
Die Hüftgelenkdysplasie (HD) wurde „entdeckt". Erste Röntgenuntersuchungen wurden durchgeführt, mit teils schlechten Ergebnissen. Die wenigen Befunde ließen natürlich noch keine Gesamtbeurteilung der Populationsbelastung zu. Aber genau das wurde von Julius Wipfel versucht. Leider kam es zu panischen Überreaktionen, worunter Charlotte Baldamus besonders zu leiden hatte und obwohl die direkt im Jägerhof stehenden Zuchttiere nicht betroffen waren, wurde die Züchterin mit Pauschalvorwürfen überhäuft, ihrer Privilegien entledigt und mit einem Zuchtverbot belegt. Diese Vorgehensweise hat sie sehr schwer getroffen und sie beschloss die Zucht aufzugeben. Das konnte nun wieder Dr. Schmidt nicht einsehen. Er erkannte schon 1971 wie weit der Zuchtstand im Jägerhof gediehen war und wollte nicht zulassen, dass dieses züchterische Werk unvollendet bleibt. Schmidts persönliche Vermittlungsversuche mit dem Hause Wipfel scheiterten und so sah er nur noch die Möglichkeit einer neuen Vereinsgründung mit dem Zweck, die hervorragende Zuchtarbeit von Charlotte Baldamus weiter zu führen. So verdanken wir es der Initiative und Überzeugungskraft von Dr. Werner Schmidt, dass vor 30 Jahren, am 4. August 1973 im Haus Nr. 7 in Mittelberg, auf dem Mittelberg (oberhalb von Moosbronn bei Gaggenau im Nordschwarzwald) die Zuchtgemeinschaft für Eurasier gegründet und in das Vereinregister Starnberg eingetragen wurde.
Damit war die Fortsetzung der Jägerhof-Zuchtarbeit möglich geworden. Charlotte Baldamus lebte wieder auf, stürzte sich förmlich in die Vereinsarbeit und führte die Zucht - eigentlich den ganzen Verein - mit der ihr eigenen Energie und Autorität.
Es bleibt noch zu erwähnen, dass Julius Wipfel sich fünf Jahre später vom Eurasierklub Weinheim (EKW) trennte und die "Kynologische Zuchtgemeinschaft" (KZG) gründete. Das Unrecht, welches Charlotte Baldamus zuteil wurde, konnte bald wieder gutgemacht werden; der EKW suchte wieder die Annäherung zur ZG und eine fruchtbare Zusammenarbeit begann. 1982 wurde Charlotte Baldamus sogar von der Delegiertenversammlung des Partnervereins EKW einstimmig zum Ehrenmitglied ernannt, was sie dankend annahm. Eine Ehrenmitgliedschaft im eigenen Verein lehnte sie allerdings mit der Begründung ab, dafür sei sie noch nicht alt genug…
Auch die drei Vereine fanden wieder zur Zusammenarbeit, durch gemeinsame Treffen, Symposien und sonstige Veranstaltungen. Mal war die Bindung enger, mal distanzierter - aber man konnte immer mit einander reden und Zuchttiere austauschen. Das war gut so, denn alle hatten sehr ähnliche Probleme - schon wegen der identischen Herkunft unserer Eurasier.
Die EDV wurde in der ZG vergleichsweise sehr früh eingeführt und ständig ausgebaut. Frau Baldamus führte ein handgeschriebenes, umfassendes Eurasier-Archiv, das bis 1959 zurückreicht. Es war die Pionierleistung von Helmut Geppert, diese Daten und Aufzeichnungen mit Charlotte Baldamus zusammen in eine speicher- und auswertbare Form und Struktur zu bringen. Es entstand eine Datenbank, ein "Super-Karteikasten", der nicht nur Zuchtbuchdaten enthielt, sondern auch zuchtrelevante Informationen, die später die Zuchtplanung in der stets wachsenden Population erheblich erleichterte. Bereits 1996 wurden mit dem EKW Daten ausgetauscht.
Auf Initiative von Frau Aach (Hauptzuchtleiterin der ZG von 1991 bis 2011) wurde die Datengemeinschaft zur Internationalen Föderation für Eurasierzucht (IFEZ) erweitert, der sich inzwischen 7 Europäische Klubs angeschlossen haben. Den Mitgliedern stehen heute ca. 10.000 Datensätze mit zuchtrelevanten Hundedaten, zurückreichend bis 1959/60, zur Verfügung.
Die Zuchtgemeinschaft für Eurasier - Ziel und Inhalt der Eurasierzucht
1986 gab Charlotte Baldamus ihr Amt als Zuchtleiterin an Dr. Werner Schmidt weiter, mit dem sie dann nicht immer einer Meinung war. Wahrscheinlich war es dessen Hang zum Experiment und erhöhtem Risiko (was ja - zur rechten Zeit - nicht unbedingt falsch sein muss), was sie störte. Charlotte Baldamus starb nach langer schwerer Krankheit am 24. April 1989 im 79. Lebensjahr - zwei Monate nach Prof. Dr. Konrad Lorenz, den sie so sehr verehrte. Wir, die Älteren unter uns, haben bei ihr unser "Handwerk" gründlich gelernt. Eine bequeme Lehrerin war sie sicher nicht. Wenn es aber das Kennzeichen einer guten Schule ist, dass diese nicht nur den üblichen Lehrstoff vermittelt, sondern darüber hinaus auch eine Einstellung, eine bestimmte Sicht der Dinge, und eine bleibende, kritische Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Erkenntnissen, so war die "Mittelbergschule" gewiss nicht die schlechteste.
"Züchten heißt: in Generationen denken" sagte einst der Genetiker Prof. Dr. Walter Schleger. Eurasierzucht ist nichts für Ungeduldige. Es gilt, beharrlich das Gute zu fördern und das Schlechte zu verdrängen, und umgekehrte Verhältnisse möglichst auszuschließen. Klingt einfach; das Dumme ist nur, dass wir bei einer Verpaarung nur ein bis zwei Merkmale gleichzeitig berücksichtigen können. Trotzdem sind alle anderen Merkmale ebenfalls im Auge zu behalten, um dem Zuchtziel möglichst nahe zu kommen.
Aber was wissen wir schon? Wir können nicht in die Tiere hineinschauen, wir wissen nicht, welche genetischen Überraschungen in ihnen stecken. Umso wichtiger ist es, das knappe, wirklich gesicherte Wissen über unsere Hunde vernünftig einzusetzen. Zucht ist immer eine Risikoabwägung. Eine weitere Aufgabe besteht darin, Verwandtschaftsverpaarungen zu vermeiden. Was zu Beginn einer Rasseentwicklung unumgänglich ist, nämlich enge Verwandtschaftszucht, um Fehler früh zu erkennen und erwünschte Merkmale zu festigen, ist in späteren Zuchtstadien unbedingt zu vermeiden, um die Zuchtbasis nicht einzuengen. Eine wirksame Zuchtbasiserweiterung wird aber speziell beim Eurasier zuverlässig nur über eine regelmäßige Einmischung der Ursprungsrassen möglich sein. Das war bisher unter dem Dachverband VDH nicht erlaubt. Seit ca. zwei Jahren wurde einem Antrag des EKW, dem sich die ZG anschloss, endlich stattgegeben. Dem gingen lange Verhandlungen der Abordnungen von EKW und ZG voraus. Inzwischen weiß der Dachverband viel genauer, was ein Eurasier ist. Nach Klärung der Sachlage fanden wir besonders beim Wissenschaftsausschuss, aber auch beim Zuchtausschuss des VDH Verständnis und Unterstützung.
Jede Einmischung erfordert aber eine anschließende Selektionsphase, um die mit der Genpoolerweiterung ebenfalls hinzugekommenen neuen "Defektgene" in Schach zu halten - immer mit dem Ziel, die klassischen, rassebestimmenden Eigenschaften nicht aus dem Auge zu verlieren. Das wird auch in Zukunft so sein.
Hüten wir uns davor den einfachen, bequemen Weg zu gehen! Es ist immer sehr verlockend, Merkmale, die ins Auge fallen, die man gut messen und zählen kann, die bei der Beurteilung eines Hundes leicht zu untersuchen sind, zu bevorzugen - zu Ungunsten von Defekten, die man nicht "sieht" und deren Erfassung mehr Mühe erfordert. Wer das tut, betrügt sich selbst und gleicht jenem Besoffenen, der seinen verlorenen Hausschlüssel unter der Straßenlaterne sucht, nur weil es da hell ist.
Lohnt sich der Aufwand? "Hat es denn seine Berechtigung, zu den vielen Hunderassen, die es heute gibt, noch eine weitere zu kreieren? "Ich glaube ja", so schrieb Konrad Lorenz 1949. Und weiter: "Dazu brauche ich aber einen Hund, der keine Modetorheit ist, sondern ein lebendiges Tier, kein Kunstprodukt und Triumph formzüchterischen Könnens, sondern ein natürliches Wesen mit unverbildeter Seele. Ich will Hunde ausgesprochen mit dem Zuchtziel einer idealen Vereinigung der seelischen Eigenschaften von Lupus- und von Aureushunden züchten, einen Hund der speziell das zu geben imstande ist, was der arme, zivilisierte und auf dem Asphaltboden lebende Mensch vom Hund erwartet und braucht".
Meine Damen und Herren, das waren von Anfang an die anzustrebenden Vorgaben für unsere Eurasierzucht und das sind sie auch heute noch. Wenn wir diese Lorenz'schen Ideale in unserem Zuchtziel vernachlässigen oder gar verlieren, dann, dessen bin ich mir sicher, hat die Eurasierzucht ihren Sinn verloren. Hoffen wir auch weiterhin engagierte Menschen zu finden, die uns durch ihren persönlichen Einsatz helfen, die Eurasieridee im ursprünglichen Sinne in die Zukunft weiter zu tragen.
Alfred Müller im Oktober 2003
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